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Abschied vom Supergedenkjahr

Die „Achterjahre“ bescherten Tschechien ein Jahr der Symbolik. Es begann mit dem eher traurigen Gedenken an 1948, 1968 und 1938 und endete mit der Feier zum „100. Geburtstag der Tschechoslowakei“. Was bewirkt die Erinnerung? Und wie funktioniert kollektives Gedächtnis auch ohne Jubiläen?

 

von Niklas Zimmermann

 

Vor allem im Nebel hatte der riesige Bau etwas Gespenstisches. Sieben Jahre lang ging gefühlt kein Mensch ein und aus. Seit dem letzten Oktoberwochenende kann er sich vor den Massen aber kaum retten. Pünktlich zum 100. Jahrestag der Gründung der Ersten Tschechoslowakischen Republik fand nämlich die Wiedereröffnung des Hauptgebäudes des tschechischen Nationalmuseums statt. Das am oberen Ende des Prager Wenzelsplatzes gelegene Bauwerk wurde innen und außen auf Hochglanz gebracht. Einige Besucherinnen und Besucher knipsen am monumentalen Treppenaufgang Selfies. Doch die meisten Menschen zieht es in die neue Dauerausstellung. Mit ihr soll an die verschiedenen Formen der bis 1992 tschechoslowakischen Staatlichkeit erinnert werden.

 

Während die englischsprachige Website vom „100. Geburtstag der Tschechoslowakei“ schreibt, vermeidet die Ausstellung das Pathos. Klar wird: Es war alles andere als selbstverständlich, dass Tschechen und Slowaken zusammen einen Staat bilden. Sehr unterschiedlich waren die kulturellen und politischen Traditionen. Kreise um den späteren Staatspräsidenten Tomáš Garrigue Masaryk erkannten jedoch die Chancen eines gemeinsamen Nationalstaates. Und die Erfindung der „tschechoslowakischen“ Nationalität war auch ein Mittel, um gegen deutsche und ungarische Minderheiten eine Mehrheit zu bilden. Sachlich thematisiert die Exposition auch weniger ruhmreiche Kapitel der Ersten Tschechoslowakischen Republik und der kommunistischen Nachkriegs-Tschechoslowakei. Dazu gehören der Pragozentrismus, die Vertreibung der Deutschen und die erzwungene Sesshaftmachung der Roma. Neben politischer Geschichte thematisiert die Ausstellung auch den Alltag der Bevölkerung, das Wirtschaftsleben und die tschechoslowakische Filmkultur. Aber natürlich: Als Blickfang darf das Original des Münchener Abkommens nicht fehlen. Und der nette Herr von der Besucheraufsicht wiederholte unablässig: „Das hier ist die Unterschrift von Adolf Hitler.“

 

Dem Gedenken überdrüssig

 

Falls jemand bemängelt, dass sich die Menschen nicht mehr für Geschichte interessieren würden, kann man dieser Person nur raten, nach Tschechien auszuwandern. Der Soziologe Zdeněk Suda schrieb bereits 1995 von einem „überhistorisierten“ tschechischen Nationalbewusstsein. Und im Supergedenkjahr 2018 dürfte es wohl einen Allzeitrekord der Geschichtssendungen im Tschechischen Rundfunk gegeben haben. Selbst darin aufgetretene Historiker sagen im Gespräch: „Wir haben davon genug!“ Der Überdruss ist verständlich. Im Februar jährte sich die kommunistische Machtübernahme von 1948 zum 70. Mal. Danach erinnerte man sich an den Prager Frühling und seine Niederschlagung im Spätsommer 1968. Und nicht zu vergessen ist das im September 1938 unterzeichnete Münchener Abkommen. Dieser als Inbegriff des nationalen Verrats geltende Erinnerungsort ging im Vorfeld der Feierlichkeiten zu 1918 aber fast ein wenig unter.

 

Was macht das mit einem Land, wenn die Bevölkerung sich so sehr für die eigene Geschichte interessiert? Es eröffnet Chancen, birgt aber auch Gefahren. Beginnen wir mit den Risiken: Gerade die populärkulturelle Auseinandersetzung tendiert zur Verkürzung und verfestigt das Bild einer tschechischen Opferrolle. Der Journalist Erik Tabery beschreibt in seinem Buch diese Sichtweise: „Jedes Mal, wenn die Tschechen den Weg der Demokratie eingeschlagen hatten, wurde er sofort unterbunden.“ Damit sind die Zerschlagung der Tschechoslowakei, der kommunistische Putsch und das Ende des Prager Reformfrühlings gemeint. Nicht ganz unproblematisch ist aber auch die Gegenerzählung: Der Historiker Jan Tesař veröffentlichte 2000 das Buch „Der München-Komplex“. Er wird von Intellektuellen in Tschechien bis heute dafür gefeiert, dass er das Bild des ausländischen Verrats angeblich widerlegte. Er schrieb nämlich, dass der damalige tschechoslowakische Staatspräsident Edvard Beneš sich nicht gegen das Münchener Abkommen wehrte, um die Tschechen umso mehr als Opfer darzustellen. Wie dem im Einzelnen auch sei: Die aggressive Politik der Nationalsozialisten war nicht die Erfindung von Beneš. Die Debatte ist so schwierig, weil das Land tatsächlich unter der Einmischung von außen litt.

 

Alternative Feier auf dem Wenzelsplatz

 

Hingegen einen Weg, wie man produktiv mit dem historischen Erbe umgehen kann, zeigte die am 28. Oktober auf dem Wenzelsplatz abgehaltene Feier. Regierungsvertreter waren keine dabei, dafür aber kritische Geister wie der Musiker Tomáš Klus, der ehemalige Studentenführer Šimon Pánek und der frühere tschechische Premierminister Petr Pithart. Natürlich war es eine Kundgebung gegen die populistische Politik von Regierungschef Andrej Babiš und Staatspräsident Miloš Zeman. Doch Mikuláš Minář vom Verein „Eine Million Augenblicke für die Demokratie“ machte gleich zu Beginn deutlich, dass es um das Feiern geht. Man habe Grund dazu, weil die Erste Republik der erste demokratische Staat auf tschechischem Boden war. Doch statt Verklärung bräuchte es Wahrheit. Und statt Skepsis sei eine positive Vision nötig. Minářs Worte können auch ein Appell an jene sein, die Tschechien im allgemeinen Niedergang sehen. Diese Leute glauben in ihrer resignativen Haltung nicht daran, dass man die Entwicklung aus eigener Kraft umkehren kann.

 

Auf jeden Fall muss die Erinnerung im metaphorischen Sinne laufen lernen. Denn ein solches mehrfaches Gedenkjahr kommt nicht so schnell wieder. Manche dürften aufatmen. Nun geht es darum, eine bewusste, aber gleichzeitig objektive Erinnerung auch außerhalb der „Achterjahre“ zu pflegen. Die Ausstellung im Nationalmuseum macht es vor. Zudem könnte auch der „Überhistorisierung“ entgegengewirkt werden. Als Beispiel: So problematisch die prorussischen Alternativmedien die Debatte in Tschechien auch beeinflussen, sind sie nicht einfach die Wiederkehr des sowjetischen Einmarsches vom August 1968. Und einen Trumpf haben die Freunde der Symbolik noch in der Hinterhand: Am 17. November 2019 jährt sich die Samtene Revolution in Tschechien und der Slowakei zum 30. Mal. Die von kommunistischen Mentalitäten geprägten Regierungen beider Länder sind dann, wenn nichts Unvorhergesehenes passiert, noch im Amt. Sie dürfen sich auf einige für sie nicht erfreuliche Kundgebungen gefasst machen.

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