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Tschechien ist nicht nur Babiš

Nach den jüngsten Parlamentswahlen sprechen die Kommentatoren von der "Babiš-Revolution". Der zweite Blick zeigt jedoch: Neue Kräfte wie die Piraten oder die Starostové (Bürgermeister) könnten Tschechien viel nachhaltiger prägen als der Multimilliardär Andrej Babiš. 

 

von Niklas Zimmermann

 

Wir leben in Zeiten der politischen Personalisierung: Emmanuel Macron eroberte den Pariser Elysee-Palast mit der ganz auf ihn zugeschnittenen Bewegung "En Marche". Sebastian Kurz krempelte die Österreichische Volkspartei kurzerhand zur "Liste Sebastian Kurz" um und hat nach den gewonnenen Wahlen beste Chancen, neuer Regierungschef der Alpenrepublik zu werden. Da ist es naheliegend, dass auch die Berichterstattung zu den tschechischen Wahlen auf Andrej Babiš fokussiert. Das linksliberale Wochenmagazin "Respekt" warnt vor der "Babiš-Revolution". Die eher rechtskonservative Zeitschrift "Reflex" schreibt, dass die tschechische Nation mit Babiš den Weg in die Unfreiheit gewählt hat. Und die ausländischen Medien bezeichnen den Multimilliardär ohnehin als tschechischen Donald Trump.

 

Es wäre Realitätsverweigerung, wenn man den Erfolg der Babiš-Partei ANO einfach ausblenden würde. Denn sie ist mit 29,6 Prozent der Wählerstimmen und 78 von 200 Parlamentssitzen die mit Abstand stärkste Kraft. Und ja, die meisten gegen Babiš erhobenen Vorwürfe treffen zu: ANO ist eine auf die Bedürfnisse ihres Sponsors ausgerichtete Retortenpartei. Von demokratischen Checks and Balances hält der zweitreichste Mann Tschechiens nicht viel und spricht lieber davon, das Land wie eine Firma zu führen. Zudem fischt Babiš mit antimuslimischen Parolen und der Verharmlosung des Roma-Holocausts tief in den rechten Gewässern. Aber die Wählerinnen und Wähler schafften klare Fakten: An Babiš vorbei kann keine Regierung gebildet werden. Jetzt geht es um Schadensbegrenzung: Diese wäre am ehesten erreicht, wenn die Sozial- und Christdemokraten die bittere Pille schlucken und noch einmal eine Koalition mit dem Oligarchen eingehen. Dabei könnten sie zur Bedingung erheben, dass der polizeilich des Subventionsbetrugs beschuldigte Babiš auf das Amt des Ministerpräsidenten verzichtet. Den Kommentatoren zufolge scheint dieses Szenario so unrealistisch nicht zu sein. Auch Babiš schließt eine Koalition mit dem Rechtsradikalen Tomio Okamura und den unreformierten Kommunisten aus. Der Agrar- und Medienunternehmer ist Pragmatiker genug, um die geschäftsschädigenden Auswirkungen eines solchen auf den EU-Austritt zusteuernden Bündnisses zu sehen.

 

Die Piraten: Frisch und frech

 

Höchst ungerecht wäre es gegenüber den tschechischen Bürgerinnen und Bürgern, wenn man den Wahlausgang auf Babiš und seine ANO-Partei verkürzt. Denn auch im liberalen und proeuropäischen Segment hat eine bemerkenswerte Transformation stattgefunden: An erster Stelle steht dabei die tschechische Piratenpartei, die mit 10,8 Prozent der Wählerstimmen einen spektakulären Erfolg feierte. Nach Island ist Tschechien erst das zweite Land, in dem die Piraten in ein nationales Parlament einziehen. Es lohnt sich, die tschechischen Piraten etwas genauer in den Blick zu nehmen: Sie haben sich in der Spätphase des Wahlkampfes als Gegenpol zur rechtsradikalen Partei SPD positioniert und diese in der Wählergunst sogar hinter sich gelassen. Dabei ließen sie sich durch harte Attacken von SPD-Chef Okamura nicht provozieren. Zudem kamen sie anders als die erfolglosen tschechischen Grünen nie in den Ruf einer freudlosen Verbotspartei. Stattdessen pflegen sie mit den Dreadlocks ihres Spitzenkandidaten Ivan Bartoš ein rebellisches Image. Das Programm der Piraten ist aber erstaunlich umfassend und lässt sowohl libertäre als auch sozial-ökologische Einflüsse erkennen.

 

Von euroatlantisch ausgerichteten Think-Thanks kam Kritik auf, als sich Bartoš im vergangenem März nicht eindeutig zur Nato-Mitgliedschaft Tschechiens bekannte. Vor den Wahlen betonten die Piraten aber, dass sie gegen einen Austritt sind. Auch wenn dabei Unsicherheit bleibt: Man sollte hinnehmen können, dass für eine linksliberale Gruppierung die Sicherheitspolitik nicht gerade eine Kernkompetenz ist. Im Unterschied zur stark auf die EU- und Nato-Zugehörigkeit ausgerichteten Partei TOP 09 konnten die Piraten aber auch abseits des liberalen Prags viele Wählerstimmen erobern. Zwar hatten auch sie in der Hauptstadt mit 17,6 Prozent der Stimmen ihr stärkstes Ergebnis. Aber sogar in den nordböhmischen und schlesischen Industrieregionen schlugen sich die Piraten mit sieben bis zehn Prozent achtbar. Hingegen die TOP 09, welche landesweit mit 5,3 Prozent der Stimmen nur knapp den Wiedereinzug ins Abgeordnetenhaus schaffte, stürzte in diesen Gebieten mit Ergebnissen von ein bis drei Prozent in die Bedeutungslosigkeit.

 

Starostové: Problemlöser aus der Region

 

Ein zweites interessantes Phänomen  ist der Erfolg der Gruppierung Starostové, die mit 5,2 Prozent Wähleranteil ins Parlament einzog: Bei den "Bürgermeistern" ist der Name Programm. Sie setzen vor allem auf erfolgreiche Lokal- und Regionalpolitiker. Die Ironie der Geschichte ist: Die Starostové traten nur unfreiwillig als eigenständige Kraft zur Wahl an. Nachdem sie bei früheren Wahlen auf den Listen der TOP 09 angetreten sind, verabredeten sie dieses Mal mit der christdemokratischen Partei KDU-ČSL eine Wahlallianz. Diese hat gemäß dem tschechischen Wahlrecht eine Hürde von zehn Prozent zu erreichen. Angesichts schlechter Umfragewerte kriegten die Christdemokraten aber zwei Monate vor den Wahlen die Panik und lösten das Bündnis auf. Bis kurz vor dem Urnengang sagten die Demoskopen den Starostové ein Ergebnis klar unter der Fünfprozenthürde voraus. Erst in der Schlussphase gelang ihnen eine Aufholjagd und sie erzielten ein nur wenig schwächeres Wahlergebnis als die KDU-ČSL, welche 5,8 Prozent der Wählerstimmen vereinte.

 

Die "Bürgermeister" unterscheiden sich von fast allen anderen Parteien darin, dass ihre Hochburgen nicht durch die sozioökonomische Struktur Tschechiens erklärbar sind. Stattdessen waren sie dort erfolgreich, wo sie sich bereits profilieren konnten. Das beste Ergebnis erzielten die Starostové mit 18,3 Prozent im mittelböhmischen Kolín, wo sie mit Vít Rakušan den Bügermeister stellen. Ebenfalls sehr stark waren sie mit 14,1 Prozent im nordböhmischen Liberec. Dort amtiert ihr Vertreter Martin Půta als Kreishauptmann. Inhaltlich vertreten sie ein eher unspektakuläres Programm und treten für mehr Dezentralisierung und die soziale Marktwirtschaft ein. Anders als die Piraten bekennen sich die Starostové aber klar zum transatlantischen Militärbündnis und wollen die Verteidigungsausgaben erhöhen. Statt in schrillen Parolen liegt der Charme der "Bürgermeister" darin, dass sie lokal bewährten Kräften die Möglichkeit geben, sich eine Ebene höher zu beweisen. In Anbetracht dessen, dass die politischen Eliten Tschechiens in den letzten Jahren nicht gerade durch hohe Problemlösungskompetenz aufgefallen sind, ist das ein interessanter Ansatz.

 

Kann die "neue Mitte" sich etablieren?

 

Sowohl die Piraten wie auch die Starostové müssen sich im parlamentarischen Alltag erst einmal beweisen. Sollten sie nicht scheitern, haben sie beide das Potenzial, sich langfristig in der politischen Landschaft festzusetzen. Ihnen ist gemein, dass sie das politische Zentrum in Tschechien stärken. Bisher beschränkte sich dieses  auf die von der Prager Kulturelite getragene TOP 09 und auf die Christdemokraten, welche sich auf die katholischen Wähler in Mähren stützen. Gerade der Niedergang der TOP 09 zeigt, dass die Kritik an den von Andrej Babiš und Staatspräsident Miloš Zeman verkörperten autoritären Tendenzen nicht ausreicht. Die Partei hatte keine wirkliche positive Vision. Wer sich in Prager Kneipen umhört, stellt fest, dass auch in der Hauptstadt viele TOP 09-Wähler zu den Piraten und den Starostové überliefen. Das sollte der Partei, die lange von der Popularität des ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Karel Schwarzenberg zehrte, zu denken geben.

 

Um auf den Wahlsieger Babiš zurückzukommen: Weshalb könnte die ANO-Partei bereits auf dem Zenit ihres Erfolges sein? Zunächst einmal liegt es in der Altersstruktur ihrer Wähler. Bei den über 60-Jährigen war ANO mit 41 Prozent Wähleranteil die unangefochtene Spitzenreiterin, während sie bei den unter 35-Jährigen nur von 14 Prozent gewählt wurde. Der Erfolg bei den traditionell links wählenden Älteren wurde mit teuren Rentengeschenken erkauft. Zudem brachte es Babiš in den vergangenen vier Jahren  fertig, sich trotz Regierungsbeteiligung als Opposition gegen den sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Bohuslav Sobotka aufzuspielen. Dies wird mit einem ANO-Regierungschef nicht mehr so einfach sein. Und nicht zuletzt fällt die Retortenpartei mit der Person Andrej Babiš. Sollte er sich wie angekündigt in vier Jahren aus der Politik zurückziehen, ist es sehr fraglich, ob die durch die Loyalität zu Babiš zusammengehaltene Gruppierung weiter die politische Szene dominieren kann.

 

Das bedeutet im Umkehrschluss nicht, dass die Perspektiven für die alten und neuen Mitteparteien nur rosig sind: Um an die Regierung zu gelangen, braucht es Partner. Infrage kommen die rechtskonservative Bürgerpartei ODS oder die sozialdemokratische ČSSD. Bei den Wahlen von letztem Samstag wurde die ODS mit 11,3 Prozent Wähleranteil zweitstärkste Kraft. Sie grenzt sich unter dem aktuellen Vorsitzenden Petr Fiala nach Rechtsaußen ab. Allerdings drängt in der Bürgerpartei auch der offen mit dem EU-Austritt flirtende Václav Klaus ml. an die Spitze. Und bei den Sozialdemokraten, die bei den Wahlen ein regelrechtes Debakel erlebten, wird erneut die Auseinandersetzung zwischen mehr oder weniger populistischen Strömungen aufbrechen. Dass alle Zentrumsparteien zusammen auf einen Wähleranteil von 27,1 Prozent kommen, ist beachtlich: Doch weil die Parteien KDU-ČSL, TOP 09 und Starostové nur knapp die Fünfprozenthürde übersprangen, sollten sie über eine Kooperation nachdenken. Schon bei leicht verändertem Wahlausgang wäre eine Verfassungsmehrheit für ANO, SPD und Kommunisten Tatsache geworden. Dann hätte sich auch dieser Beitrag nicht mit der "neuen Mitte", sondern mit den Gefahren für die tschechische Demokratie befassen müssen.

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